Ärger an einer Bahnschranke: Wenn Stillstand Nerven kostet
Ein Problem, dass die Menschen in Werder (Havel) umtreibt, hat den Weg in ein RTL-Magazin gefunden: Es gibt eine Bahnschranke, die bis zu zwölf Stunden am Tag geschlossen ist. Die Umfahrung ist nicht passierbar, da eine Brücke abgerissen und neu gebaut wird. Ein Stadtteil ist von der City getrennt. Rettungswagen kommen nicht durch. Schuld sind das Land, die Bahn, die Navigationssysteme. Die Bürgermeisterin weist die Verantwortung von sich. Derweil stellen sich Anwohner, Gäste, Feuerwehr und Krankenwagen hinten an.
Wenn der Alltag schwierig wird
Manchmal hat der Mensch im Leben großes Glück. In Werder (Havel) darf es jeder für sich in Anspruch nehmen, der nicht hinter der Bahnschranke lebt und arbeitet und dort kein Kitakind hat. Havelauen ist der Name des Stadtteils, der in den letzten 20 Jahren auf etwa 5.000 Menschen angewachsen ist. Sie dürfen sich nicht so glücklich schätzen, denn die Bahnschranke gehört zu ihrem Alltag. Seit einigen Monaten noch ein bisschen mehr als vorher.
Hinter der Bahnschranke gibt es noch mehr, das sich bei den Bürgern einer gewissen Beliebtheit erfreut: In der Havel-Therme schwimmen oder saunieren. Auf der Autobahn in den Norden fahren. Die leckeren Brötchen von der Tanke, die am Vormittag häufig noch warm sind. Den Einkauf bei Rewe und Kik. Wer dort nicht wohnt, kann verzichten und den Alltag um die Schranke herum gestalten Doch das ist nicht jedem vergönnt. So ist das Problem Diskussionsgegenstand Nummer Eins in Werder (Havel). Wer hier schon länger lebt, weiß: Das Problem ist nicht neu, sondern seit Jahrzehnten bekannt.
Eine Bahnschranke als Geduldsspiel
Den Alltag mit der Schranke zu gestalten, ist ein Geduldsspiel. Auf der einen Seite haben Menschen ihr Zuhause. Sie müssen zur Arbeit fahren, zum Einkaufen, zum Arzt. Auf der anderen Seite stehen Eltern, die ihre Kinder jeden Tag in die Kita bringen und wieder abholen müssen. Hinter der Schranke befinden sich drei Kitas. Viele Kinder aus der Stadt und den Ortsteilen gehen dorthin.
Die Stadt sucht den Kitaplatz aus
Eltern dürfen in Werder (Havel) eine Wunschkita angeben. Doch das war es auch schon. Die Stadt bestimmt, in welche Einrichtung ein Kind gehen darf. Und so bringt Frau A. aus den Havelauen ihre Tochter in eine Kita in der Stadt, während Frau B. neben einer Kita in der Stadt wohnt und ihren Sohn in die Havelauen bringen muss. Der Sinn dieser Regelungen? Nur schwer nachzuvollziehen.
Eine Therme und die Rettungsdienste
Am Wochenende kommen die Thermenbesucher hinzu. Die während des Baus umstrittene Havel-Therme erfreut sich vor allem bei Gästen aus dem Umland, aus Potsdam und aus Berlin einer großen Beliebtheit. Wer nicht über den westlichen Berliner Ring oder mit dem Zug kommt, muss die Schranke passieren. Das weitaus größte Problem sind jedoch Feuerwehr und Rettungskräfte, die sich gezwungenermaßen in die Schlange einreihen. Ist es eine Frage der Zeit, bis etwas passiert? Mittlerweile hat die Stadt eine Station mit einem Krankenwagen hinter der Schranke postiert. Eine Feuerwehr gibt es im Ortsteil Phöben. Doch das ungute Gefühl bleibt.
Seit 30 oder 40 Jahren eine geschlossene Bahnschranke in Werder (Havel)
An einem normalen Werktag zieht sich der Stau sich mehr als einen Kilometer. Er reicht bis zum Scala-Kino, es befindet sich etwas außerhalb der Innenstadt. Wer sich auskennt, fährt auf einer Nebenstraße bis zum Bahnhof. Und steht im Stau. Die Autofahrer kommen aus der Region und kennen sich aus. Vor der Schranke befindet sich eine Kreuzung, sie ist in alle Richtungen zugestaut. Nichts geht mehr, in diesem Bereich. Drei Bilder, aufgenommen im Abstand von wenigen Minuten, zeigen: Die Autos stehen in alle Himmelsrichtungen.
Direkt vor der Schranke steht eine Traube von Menschen mit und ohne Fahrrad in der Hand.Ein Mann und eine Frau tauschen sich aus. Beide sprechen sehr laut. Ein Tunnel unter den Bahngleisen sollte bereits vor 30 oder 40 Jahren gebaut werden. So genau weiß man das heute nicht mehr.
Als der Wärter noch die Kurbel bediente
Die geschlossene Schranke war schon in der DDR ein Thema. Damals fuhr der Sputnikvon Brandenburg nach Ost-Berlin. Die Schranken wurden von einem Wärter gekurbelt. Das Wärterhäuschen gibt es noch. Die Scheiben sind milchig, das Mauerwerk verfallen. 2030 soll der Tunnel fertig sein, sagt die Frau. 2032 erst, korrigiert der Mann. Die Bahn brauche die Strecke als Umfahrung für ICEs und Güterzüge, weil irgendwo Gleise neu verlegt würden. Das wäre ein Grund für die ständig geschlossene Schranke: Züge werden über Werder umgeleitet. Die Balken senken sich im Schnitt alle drei Minuten.
Nach drei Zügen öffnet sich die Schranke
Drei Züge donnern durch, dann hebt sich die Barriere. Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger dürfen passieren. Das ging ja noch schnell, sagte die Frau, die sich mit dem Mann über den geplanten Tunnelbau unterhalten hatte. Beide schwingen sich auf ihr Rad und schlängeln sich an den Fußgängern vorbei. Einen vernünftigen Fahrradweg gibt es hier nicht. Er soll gebaut werden. Bis 2030. Oder 2032. Solange muss es irgendwie gehen.
Der Weg ist schmal, zu schmal, für Fahrräder und Fußgänger. Doch das ist das kleinere Ärgernis. Die Fußgänger können passieren, bevor sich die Schranke nach exakt viereinhalb Minuten wieder schließt.
Eine ständig geschlossene Bahnschranke – Ursachenforschung
Die Schranke trennt die Kernstadt von dem Stadtteil Havelauen und einigen Einfamilienhäusern, die in der Vorstadt stehen. Es gibt ein Gewerbegebiet mit dem Busdepot, einem Wertstoffhoff und verschiedenen Unternehmen, die sich dort angesiedelt haben. Weiter hinten arbeiten zwei Fabriken, dann folgen das Ortsausgangsschild, die Straße zum Ortsteil Phöben und die Autobahn A10. Eine hoch frequentierte Straße also. Auf dem weitläufigen Areal waren während der DDR-Zeit sowjetische Soldaten stationiert. Nach deren Abzug im Jahre 1994 wurde das Gebiet neu erschlossen. Neben den 5.000 Anwohnern gibt es dort Restaurants, Ärzte, Kleingewerbetreibende und die bereits erwähnte Therme. Die einen Besuch wert ist. Wenn der Gast denn über die Schranke kommt. Busse, Lkw und Lieferwagen haben keine Chance, das Nadelöhr zu umgehen. Verspätungen und Einschränkungen bei Lieferungen sind die Folge.
Die Ausweichstrecke ist unpassierbar
Es gibt eine Ausweichstrecke mit einer zweiten Schranke im Ortsteil Kemnitz. Die Schließzeiten der Schranke sind dort kürzer, weil es keinen Bahnhof in der Nähe gibt. Die Schranke in der Stadt muss schließen, bevor der Zug aus Berlin in den Bahnhof einfährt: Sollten die Bremsen versagen, würde die Bahn über den offenen Schrankenbereich hinausschießen.
Seit Dezember 2022 fahren die Züge zu den Stoßzeiten am Morgen und am Nachmittag dreimal in der Stunde. So senkt sich die Schranke, bevor der Zug in den Bahnhof fährt, und bleibt geschlossen, bis er diesen wieder verlässt und die Schranke passiert hat. Diese Karenzzeit fällt in Kemnitz weg. Doch da gibt es das Brückenloch.
Navigationssystemen fehlt die künstliche Intelligenz
Die Brücke führt über die Autobahn A10. Sie wird erneuert, weil sie später als Umfahrung während des Tunnelbaus dienen soll. Sie wird breiter und größer als ihre Vorgängerin. Die Bauarbeiten führen zu Staus auf der A10 vor und hinter dem Brückenbereich. Doch schlaue Navigationssysteme wissen vorher, wo der Stau beginnt. Sie schlagen dem Autofahrer eine Umfahrung vor. Durch die Stadt Werder (Havel), wobei jedes Auto und jeder Lkw die Bahnschranke passieren muss.
Ein Wohn- und Gewerbegebiet hinter der Schranke
In dem eingangs erwähnten Bericht des Fernsehsenders RTL äußert sich Werders Bürgermeisterin Manuela Saß in etwa dahingehend, dass die Menschen in den Havelauen von der Innenstadt abgeschnitten seien. Nun ja: Die Schranke war vor dem Wohngebiet da. Und sie war oft geschlossen, als das Gebiet noch von den sowjetischen Soldaten bewohnt wurde. Die Stadt baut jeden Zentimeter zu, in dem genannten Gebiet: Gerade entstehen auf der letzten Grünfläche Luxuswohnungen an der Havel. Die Havelauen werden weiter wachsen.
Halten wir die Gesamtsituation fest:
- Ein Bahnhof einige hundert Meter von der Schranke entfernt bedingt eine längere Schließzeit der Schranke bei allen Zügen, die aus Berlin kommen und im Bahnhof halten. Fahrzeuge und Fußgänger warten an der Schranke, bis die Fahrgäste ein- und ausgestiegen sind, der Zug sich wieder in Bewegung setzt und die Schranke passiert hat
- Das Verkehrsaufkommen auf der Schiene ist höher, weil der Regio RE1 zu Stoßzeiten dreimal statt vorher zweimal in der Stunde fährt
- Die Bahn benötigt die Strecke als Umfahrung, weil anderswo gebaut wird; es nutzen deutlich mehr Züge die Strecke
- Die Straße der Ausweichstrecke ist aufgrund eines Brückenbaus dicht. Und das ist noch nicht alles: Autos umfahren den damit verbundenen Stau auf der A10, indem sie die Autobahn an der Anschlussstelle Phöben verlassen und sich durch Werder (Havel) quälen. Dabei müssen sie die Schranke passieren
- Das Wohngebiet Havelauen hinter der Schranke wird weiter ausgebaut: Es entstehen neue Wohnungen, Einfamilienhäuser und es wird Gewerbe wird angesiedelt (geplant sind Arztpraxen und Restaurants)
Bei der Betrachtung des Mixes aus hohem Verkehrsaufkommen auf der Schiene, Umleitungen auf den Gleisen und einer unbefahrbaren Ausweichstrecke zur gleichen Zeit stellt sich doch die Frage: Wer plant sowas? Die Stadt nicht. Sie kann auf Nachfrage für gar nichts. Ob die totale Machtlosigkeit wirklich so gegeben ist? Doch warum wird nicht wenigstens der Ausbau des Wohngebietes mit weiterer Ansiedlung gestoppt? Nun ja. Eine Stadt die baut, blüht auf. Das ist ein Slogan aus den 1990er Jahren, der geprägt wurde, als Werder (Havel) begann, sich von einer grünen beschaulichen Kleinstadt zu einer grauen lauten Kleinmetropole zu entwickeln.
Ein Tunnel soll das Problem lösen
Die Lösung des Problems ist ein Tunnel, der im Jahre 2030 fertig sein soll. Oder 2032, glaubt man dem Gespräch der Wartenden vor der Schranke. Nach Informationen des Landesbetriebs Straßenwesen läuft die Planung auf 2030 hinaus. Ein YouTube-Video, das in einer Studie die künftige Straßenführung für Autofahrer, Anwohner, Radfahrer und Fußgänger zeigte, wurde vom Netz genommen.
RTL berichtet, dass die Bahn eine Zustimmung zum Bau des Tunnels erst im Jahre 2028 geben könne. So lange wird die Strecke als Umgehung für die geplanten Bauarbeiten benötigt.
Seit Jahrzehnten eine hohe Frequenz auf der Schiene
Bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war der Bau eines Tunnels oder einer Brücke im Gespräch, weil die Bahnstrecke als Ost-West-Achse stark befahren ist. Nach der Wende wurde Werder (Havel) recht schnell an den Regio RE1 angebunden. Es ist die Hauptstrecke der Region: Sie führt von Magdeburg oder Brandenburg über die Berliner Stadtbahn nach Frankfurt (Oder), Cottbus oder Eisenhüttenstadt. Zunächst fuhr der Zug einmal pro Stunde in beide Richtungen, dann zweimal. Seit Dezember 2022 wird die Strecke zu Stoßzeiten am Morgen und am Nachmittag dreimal bedient.
Bürgermeisterin fordert einen Tunnel-Gipfel mit Ministerpräsident Woidke
Nun soll es einen Tunnel-Gipfel geben, so die Forderung von Werders Bürgermeisterin. Doch was soll ein solcher Gipfel bringen? Er wird die Bahn nicht von ihren Bauarbeiten abbringen. Die Planung steht für das Jahr 2030/2032, bis dahin fließt noch viel Wasser die Havel herunter. Dem Verständnis vieler Betroffener, die in diesem Bereich leben oder arbeiten, entzieht sich die Bauplanung für die Havelauen, obwohl das Problem mit der geschlossenen Schranke bereits beim ersten Spatenstich bekannt war.
Kritik an der Stadtverwaltung wird laut
Es gibt viele Diskussionen, zu der aktuellen Situation an der Bahnschranke in Werder (Havel). Etwa 10.000 Autos passieren die Schranke pro Tag in beide Richtungen. Somit sind sehr viele Menschen von den Einschränkungen betroffen. Einige nehmen es mit Humor, andere passen sich an. Doch der Frust ist groß und er wächst mit jedem Tag, an dem sich die Fahrzeuge in alle Himmelsrichtungen ausbreiten und auf die Überquerung der Schranke warten. Dabei wird Kritik laut, an der Stadtverwaltung, die gern alles von sich weist. Seit 15 Jahren ist der Tunnelbau im Gespräch. Immer wieder wurde er verschoben. Nun ist das Projekt zum Stillstand gekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Autos können nur mit viel Geduld passieren. Hätte es soweit kommen müssen?
Die blühende Stadt benötigt eine funktionierende Infrastruktur
Mit dem Wachsen der Stadt gab es in den letzten Jahren viele Baustellen. Ein Thermenbau, der 50 Millionen Euro kostete und sich um zehn Jahre verzögerte. Er schaffte es sogar in das Schwarzbuch der Steuerzahler.
Ein hoher Zuzug durch den Bau von Wohnungen und die Ausschreibung von Bauland, der zur Folge hatte, dass Eltern für ihre Kinder keinen Kitaplatz bekamen. Dass Grundschüler im Container unterrichtet wurden und Klassenstärken auf 30 Schüler anwuchsen.
Die dringend benötigte neue Schule ist in privater Hand und kostet Schulgeld. Derzeit werden die Grundschüler in Ersatzräumen unterrichtet, weil der Bau noch nicht fertiggestellt ist.
Die Straßen sind eng, die Menschen leben in einer Obstzüchterstadt mit einer mehr als einhundert Jahre alten Straßenstruktur, die sich aufgrund enger Bebauung kaum verändern lässt.
Es fehlen sichere Radwege. Den Vorschlag der Opposition, wenigstens in den engsten Straßen ein rot umrandetes 30-Schild aufzustellen, lehnt die Stadtverwaltung ab. Gleiches gilt bislang über die Ausweisung von Einbahnstraßen, die Radfahrern mehr Sicherheit schenken würden.
Ärzte fehlen auch. Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es keinen Hautarzt, umliegende Praxen nehmen keine neuen Patienten mehr an. Die für Werder (Havel) zuständige Ärztin sitzt im 35 Kilometer entfernten Brandenburg an der Havel. Dafür hat eine neue Praxis für ästhetische Medizin eröffnet. Dort können Patienten ihre Haut mit Botox behandeln lassen.
Die Spitze des Eisbergs
Die ständig geschlossene Bahnschranke ist die Spitze eines Eisbergs, der sich in der schönen Havelstadt auftürmt. Die Einwohnerzahl sollte ganz schnell wachsen. Die Infrastruktur blieb stehen. Die Autos, die an beiden Seiten der Schranke Tag für Tag warten, stehen sinnbildlich für den Stillstand in der Stadt.
Blühende Landschaften versprach einst Helmut Kohl. Eine Stadt, die baut, blüht auf, versprach der Werderaner Altbürgermeister in den 1990er Jahren. Beides ist gescheitert. Nicht überall. Aber im Werder (Havel) der 2020er-Jahre leider schon.