Bauernproteste – wenn sich die Geister scheiden
Die Bauernproteste starteten am 8. Januar des frisch gekürten Jahres 2024 in nahezu allen Regionen Deutschlands. Auch in den Brandenburger Landkreisen sind die Trecker unterwegs: Zum Beginn der Protestwoche blockierten sie die Auffahrten zum Berliner Ring A10. Am Mittwoch fuhr ein Konvoi von der Gemeinde Groß Kreutz nach Potsdam. Die Traktoren zogen hupend durch Dörfer und Innenstädte. Nach kleineren Aktionen unter der Woche versperrten die Trecker am 12. Januar über Stunden einen viel befahrenen Kreisverkehr zwischen Werder (Havel) und der Gemeinde Schwielowsee. Das Stimmungsbild ist aufgeheizt, die Geister scheiden sich.
Traktoren blockieren einen Kreisverkehr
Tag 5 der Bauernproteste, die als Aktionswoche vom 8. bis zum 15. Januar 2024 angekündigt waren. Vielen Menschen im Berliner Speckgürtel war es klar, dass sie von den Einschränkungen betroffen sein werden. Doch nicht alle hatten sich mit den Auswirkungen der Aktionen beschäftigt.
Im Landkreis Potsdam-Mittelmark begaben sich am Morgen des 12. Januar mehrere Traktoren zu einem stark befahrenen Kreisverkehr. Er ist Teil der Bundesstraße B1 im Abschnitt zwischen der Landeshauptstadt Potsdam und der kreisfreien Stadt Brandenburg an der Havel. Die Fahrzeuge positionierten sich auf den drei Zufahrtstraßen, die nach Potsdam, Werder (Havel) und Schwielowsee führen. Die Bauern wärmten sich an einem kleinen Lagerfeuer. Es war ein ruhiger, friedlicher Protest.
Der Vergleich mit der „Letzten Generation“
Eine ehemalige Lokalpolitikern regte In der Facebookgruppe der Blütenstadt Werder (Havel) eine Diskussion an. Die Frage war in einem ähnlichen Wortlaut auch in der Presse zu lesen:
Wo ist jetzt der Unterschied zur „Letzten Generation“?
Frage eines ehemaligen Mitglieds der Stadtverordnetenversammlung Werder (Havel) (SPD)
Werder (Havel) ist eine Stadt mit langer Tradition im Obstanbau. Es gibt bis heute selbstständige Bauernfamilien. Sollte eine Lokalpolitikerin, auch wenn sie nicht mehr aktiv ist, nicht allein deshalb Verständnis zeigen, weil sie in der Region lebt und die Sorgen der Bauern kennt?
Die Mehrheit hat Verständnis für die Bauernproteste
Es gibt Umfragen, die sich mit dem Vergleich der Bauernproteste und mit den Aktionen der Letzten Generation beschäftigen. In allen Befragungen drückte eine deutliche Mehrheit ihr Verständnis für die Bauernproteste aus. Vielleicht steht das Ergebnis der Umfrage mit den Aktionen der „Letzten Generation“ in der Hauptstadt in einem Zusammenhang: Dort gab es anstelle friedlicher Lagerfeuerromantik orangene Farbe für bekannte Berliner Sehenswürdigkeiten.
5 mögliche Gründe für die Zustimmung zu den Bauernprotesten
- Die Bauernproteste wurden vorab in der Presse und in den sozialen Netzwerken mit Datum, Ort und Uhrzeit angekündigt. Wer sich informiert hat, konnte den Stau auf dem genannten Kreisverkehr umfahren. Viele haben Umwege in Kauf genommen und sind gut nach Hause gekommen. Die „Letzte Generation“ klebte sich in Berlin unangemeldet auf der Straße fest und ließ sich von der Polizei wegtragen. Am BER wurden Zäune zerschnitten, um Zugang zum Rollfeld zu bekommen und den Flugverkehr zu blockieren.
- Die Bauern haben ein gewaltiges Arbeitspensum. Es gibt während der Ernte keinen Urlaub und keinen Feierabend. Tiere müssen rund um die Uhr versorgt werden. Einen Eight-to-Four-Arbeitstag, Work-Life-Balance und Gleitzeit kennt ein Bauer nicht. Dass Angehörige der „Letzten Generation“ so arbeitsintensive Berufe haben, ist bislang nicht bekannt.
- Die Bauernproteste sind gesetzeskonform und entsprechen dem im Grundgesetz verankerten Streikrecht. Sie sind angemeldet, genehmigt und friedlich. Die Bauern zerschneiden keine Zäune und werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für ihre Proteste nicht vor Gericht verantworten müssen. Sehenswürdigkeiten wie das Brandenburger Tor und die Weltuhr wurden von der „Letzten Generation“ mit Farbe beschmiert. Das Wahrzeichen Berlins ist zurzeit eingerüstet und muss aufwendig saniert werden.
- Der Kreisverkehr wurde für Pflegedienste, Fahrdienste und Lieferanten geöffnet; für Rettungswagen und Polizei ebenfalls. In Berlin blockierten die „Klimakleber“ die Stadtautobahn in ganzer Breite. Niemand kam durch.
- Die Bauern protestieren gegen die Abschaffung von Subventionen und gegen Auflagen, die ihnen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt nehmen. Deutschland soll eine leistungsfähige Landwirtschaft behalten. Hilft es dem Klima, wenn Demonstranten mit einem Mietwagen zum Protestort fahren und sich dort auf der Straße festkleben? Oder wenn sie mit umweltschädlicher Farbe experimentieren?
Informieren, nicht meckern
Die Demo am Kreisverkehr begann mittags. Sie war bis 20 Uhr angemeldet. Dies wurde rechtzeitig bekanntgegeben. Die Blockade beschränkte sich auf diesen einen Kreisverkehr.
Zugegeben: Die Umfahrung ist kompliziert. Sie führt über Potsdam oder die Autobahn A10. Es müssen etliche Kilometer zurückgelegt werden. Eine Option wäre gewesen, sich zu informieren oder für einen Tag auf das Auto zu verzichten. In der Region gibt es einen sehr gut strukturierten Nahverkehr, der sogar pünktlich ist. Die Züge fahren zwei. bis dreimal die Stunde nach Potsdam, Berlin und Brandenburg an der Havel.
Am Montag, zu Beginn der Protestaktionen, versperrten die Bauern die Zufahrten zur Stadt Brandenburg an der Havel. Durch die Lage am Wasser gibt es nicht viele Möglichkeiten, die Stadt zu erreichen oder zu verlassen. Dies war für die Bewohner und für Pendler mit großen Einschränkungen verbunden. Brandenburg stand still.
Die Protestaktion am Kreisverkehr war für den Autofahrer vermeidbar. Sie konnte umfahren werden. Die Ausweichstraßen waren voll, sie führten wahlweise über eine Fähre oder über die Autobahn. Aber niemand musste dort 90 Minuten oder länger stehen, es sei denn, er tat es freiwillig.
Die Bauern bekamen den Frust zu spüren
Die Bauern am Kreisverkehr bekamen den Unmut der Autofahrer zu spüren. Eine laut aus dem Fenster schimpfende Dame aus einem anderen Landkreis, die vermutlich keine Nachrichten aus Potsdam-Mittelmark verfolgt, durfte passieren, obwohl sie augenscheinlich keinem Pflegedienst angehörte. Bei der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr lieferte sie sich ein weiteres hitziges Wortgefecht, weil die Treckerfahrer keinen Platz machen wollten. Der Kleinwagen passte dennoch durch und raste davon.
Eine Gruppe junger Mädels lief mit Taschen bepackt von Geltow nach Werder. Sie waren aus dem Bus ausgestiegen und empörten sich über „die Assis, ej, die den Schuss nicht mehr gehört hatten“. Vielleicht weniger TikTok, dafür Lokalnachrichten und die ODEG als Alternative gewählt?
Hätten Busse die Blockade passieren können?
Der Bus war an diesem Tag keine Option, er stand gemeinsam mit den Pkw’s im Stau. Doch auch da kommt die Frage auf, ob es die Bauern oder die Autofahrer waren, die die Busse blockierten. Ein regionaler Pflegedienst und die Potsdamer Fahrdienste, die Menschen mit Handicap am Nachmittag nach Hause bringen, hatten freie Fahrt. Sie fuhren langsam auf der freien Gegenfahrbahn an der Schlange vorbei, der Traktor machte Platz. Ob dieses Manöver den Bussen gelungen wäre, ist nicht bekannt. Doch wenn sich Autofahrer informiert und die Öffentlichen genutzt oder Umwege in Kauf genommen hätten, wären die Busse vielleicht weitergekommen.
Fakt ist, dass mit dem Regio eine perfekte Anbindung an Potsdam und Berlin besteht. Der Weg von der Kernstadt Werder (Havel) und den Ortsteilen zum Bahnhof war von der Blockade nicht betroffen. Die Bahn streikte ebenfalls, doch die ODEG fuhr und die Züge sind in der Regel pünktlich.
In Potsdam gibt es ein dichtes Netz an Bussen und Straßenbahnen, mit denen der Bürger gut zum Arzt, zur Arbeit oder zu anderen Terminen kommt: Vielleicht nicht so komfortabel, aber an Tagen wie dem 12. Januar in jedem Fall schneller. Stattdessen stellt sich der Autofahrer hinten an, wartet mehr als eine Stunde und breitet seinen Frust meckernd aus dem offenen Autofenster oder in sozialen Netzwerken aus.
In beide Richtungen hatte der Stau eine Länge von etwa fünf Kilometern. Davon fiel der größere Teil auf Autofahrer, die aus Potsdam kamen und offenkundig von der Arbeit nach Hause fahren wollten. Die Passierdauer betrug bis zu zwei Stunden: Ab und zu bewegten sich die Trecker und öffneten ihre Sperre. Ansonsten harrten die Bauern neben ihrer Feuerschale bei Minusgeraden aus. Die schimpfenden Autofahrer und Fußgänger wurden ignoriert.
Das Leben ist keine Einbahnstaße
Es gab zahlreiche Kritikpunkte: Der Arzttermin, auf den der Kassenpatient ein halbes Jahr warten musste. Die Arbeit in Potsdam oder Berlin, für die weder Gleitzeit noch Homeoffice noch ein freier Tag vereinbart werden konnte. Die Bauernproteste bestrafen diejenigen, die die Steuern erwirtschaften, von denen die Subventionen an die Bauern bezahlt würden. Ist das ein Argument?
Nein, denn das Leben ist keine Einbahnstraße: Wenn das Auto morgens streikt, einen platten Reifen hat oder eine tote Batterie, muss der betroffene Fahrzeugführer umdisponieren. Stehen weder Zweitwagen noch ÖPNV-Anbindung zur Disposition, wird der Arzttermin verpasst oder die Arbeit zu spät erreicht. Auch das gehört zum Alltag dazu.
Ereignet sich auf der Strecke ein schwerer Unfall gibt, steht das Auto im Stau und kommt weder vor noch zurück. Mit diesen unliebsamen Überraschungen und Einschränkungen müssen wir täglich leben. Warum ist es nicht möglich, auf angekündigte Bauernproteste mit Verständnis und Planänderung zu reagieren?
Zeitung lesen oder den Staumelder aktivieren
Die regionale Zeitung in Potsdam-Mittelmark berichtete in einem Liveticker seit Montag von den Einschränkungen. Das Problem: Die Zeitung kostet Geld. Obwohl eine Tageszeitung in der Vergangenheit nie kostenlos war, wird heute in den sozialen Netzwerken verlangt, das Journalisten ihre Arbeit gratis zur Verfügung stellen. Doch wer möchte schon ohne Vergütung tätig werden?
Digitalisierung kostet Geld: Streamingdienste oder Lootboxen für das Computerspiel werden bezahlt. Doch die digitale Zeitung ist zu teuer. Der RBB hat in den lokalen Nachrichten auf die geplante Blockade aufmerksam gemacht. Die Mundpropaganda. Oder der Autofahrer denkt mit: Stau? Keine Polizei, kein Krankenwagen, keine Ampel, nichts geht mehr? Waren in dieser Woche nicht irgendwelche Proteste? Ich schalte mal das Radio ein, da gibt es Staumeldungen. Die Radiosender haben den ganzen Tag von dem Fünf-Kilometer-Stau berichtet.
Verständnis? – Ja, bitte!
Verständnis aufzubringen für die Sorgen des anderen: Da gehen die Meinungen auseinander. Dies ist nicht nur in der Protestwoche der Bauern deutlich zu erkennen. Der Anspruch, mit dem Auto bis in den Empfangsbereich der Arztpraxis oder ins Büro fahren zu können, wandelt sich in Wut, wenn der Trecker für ein paar Stunden im Wege steht. Der Autofahrer denkt an sich und seine Bedürfnisse. „Ich muss jetzt irgendwo hin, und zwar sofort.“
Dass die Proteste der Bauern berechtigt sein könnten, weil sie viel für die Gesellschaft leisten: Egal. Der Autofahrer muss zur Arbeit, zum Friseur, ins Nagelstudio oder nach Hause. Serie gucken.
Die Darstellung ist bewusst überspitzt, es gibt dringende Gründe, schnell zu Hause anzukommen. Das kranke Familienmitglied, ein Freitagabend mit Freunden, auf den sich alle lange gefreut haben. Wertvolle Zeit mit den Kindern oder einfach der Feierabend nach einer langen und anstrengenden Arbeitswoche.
Doch wir sind nicht allein, in unserem Kosmos. Wir leben in einer Gesellschaft. Und die funktioniert nur mit Zusammenhalt. Deshalb tut es uns allen gut, Verständnis für die Bedürfnisse des anderen zu zeigen.
Kritik? – Nein, danke!
Es gab positive Reaktionen im Sinne von Verständnis für die Bauern. Am Kreisverkehr und in der lokalen Facebook-Gruppe. Doch die Kommentarfunktion der interessanten Diskussion war deaktiviert worden, noch bevor die Bauern am Kreisverkehr ihre Aktion beendet hatten. Der Administrator stand wegen derartiger Mundtod-Aktionen schon häufiger in der Kritik. Eine lokale Gruppe lebt von der Diskussion. Doch Kritik prallt ungehört ab.
Es erinnert an unseren Kanzler Olaf Scholz, der seine Kommentarfunktion ebenfalls deaktivierte. Er war weder zu einer offiziellen Stellungnahme noch zu einem Dialog mit dem Bauernverband zu bewegen. Nur dieses eine Statement konnte ein Journalist seinen stets lächelnden Lippen entlocken:
Wir leben in aufgeregten Zeiten, ein bisschen haben wir das gehört, und auch das gehört zu einer Demokratie, dass man sich seine Meinung sagt.
Bundeskanzler Olaf Scholz zu den Bauernprotesten am 12. Januar 2024
Ein bisschen hat er das also gehört. Vor der Bundestagswahl 2021 versprach er, auch dann in seinem Wahlkreis präsent zu bleiben, wenn er Kanzler werden sollte. Sein Wahlkreis heißt Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II. Nummer 61. Der heutige Kanzler gewann das Direktmandat. Der Kreisverkehr zwischen Werder (Havel) und Potsdam liegt – welch eine Überraschung – mitten drin, im Wahlkreis 61. Die Bauern am kleinen Lagerfeuer hätten es sicher begrüßt, wenn der Kanzler sein Direktmandat wahrgenommen und vorbeigekommen wäre.
Ausblick: Berlin, 15. Januar 2024
Die Bauernproteste enden am 15. Januar 2024 in Berlin. Bis zu 10.000 Beteiligte mit mehreren tausend Traktoren werden vor dem Brandenburger Tor erwartet. Christian Lindner will zu den Bauern sprechen. Olaf Scholz nicht. Er lächelt und schweigt.